Plotins Begriff der Kontemplation ist in der freien, paradoxen Selbsttranszendierung der absoluten Einheit des Einen begründet – das Eine ist sogar von sich selbst frei (Enn. VI 8 [39], 19). Die gemeinte Selbsttranszendierung ist wiederum der Grund für das Entstehen und Bestehen aller Dimensionen des Bewusstseins und Seins sowie für ihr harmonisches, generatives Verhältnis sowohl zueinander als auch zum Einen, dabei jegliche Form von naivem Monismus und Dualismus vermeidend. Die kontemplative Tätigkeit des Geistes, die noêsis, ist innerhalb des Seins Urbild jener Selbsttranszendierung; denn sie transzendiert die Identität des Geistes – der Geist ist an sich urbildhafte Einheit von Identität und Andersheit (Enn. VI 7 [38], 13-14) – einerseits als Hinwendung zum Einen, andererseits als Offenheit für die Hervorbringung einer anderen Form des Seins, das heißt für die Seele und für die sichtbare Welt. Diese zweiseitige Selbstranszendierung wird vom Geist allen Formen des Bewusstseins und Seins vermittelt; folglich nimmt jede Seins- und Bewusstseinsform an der Tätigkeit des Geistes, an der noêsis, teil bzw. ist in irgendeiner Modalität noêsis (III 8 [30],8,12–18), sodass auch die sinnlichen Wahrnehmungen letztendlich noêseis, d. h. kontemplative Akte, sind (VI 7 [38],7,30– 31). Dies erklärt, warum die im Sichtbaren verkörperte menschliche Seele die Möglichkeit hat, das eigene Bewusstsein wieder zum Geist und dadurch zum Einen hin zu orientieren. Aufgrund ihres Zusammenhangs mit der Freiheit des Einen wirkt Kontemplation als Quelle eines generativen Kreislaufs, in dem alle Formen des Bewusstseins und des Seins durch ihren je eigenen Impuls zur generativen Selbsttranszendierung die unerschöpflich generative Kraft und Gegenwart des Einen offenbaren und somit auf verschiedenen Stufen die Wege der Rückkehr zum Einen nicht nur zeigen, sondern auch selbst bilden (Enn. I 6 [1] passim; V 9 [5],2; I 3 [20],1–3). Rückkehr ist dabei keine Wiederkehr des Gleichen, keine reproduktive, lediglich widerspiegelnde Tätigkeit. So wird das Selbst, das sich, ausgehend von der harmonischen Verbindung der Seele mit dem sichtbaren Sein, zum Geist zurückwendet, den Geist, und mit ihm die Erfahrung des Einen, in einer einmaligen Form erleben, die in die unerschöpfliche Generativität des Geistes sowie in die Freiheit des Einen vollkommen integrierbar ist.

Kontemplation

lavecchia
2024-01-01

Abstract

Plotins Begriff der Kontemplation ist in der freien, paradoxen Selbsttranszendierung der absoluten Einheit des Einen begründet – das Eine ist sogar von sich selbst frei (Enn. VI 8 [39], 19). Die gemeinte Selbsttranszendierung ist wiederum der Grund für das Entstehen und Bestehen aller Dimensionen des Bewusstseins und Seins sowie für ihr harmonisches, generatives Verhältnis sowohl zueinander als auch zum Einen, dabei jegliche Form von naivem Monismus und Dualismus vermeidend. Die kontemplative Tätigkeit des Geistes, die noêsis, ist innerhalb des Seins Urbild jener Selbsttranszendierung; denn sie transzendiert die Identität des Geistes – der Geist ist an sich urbildhafte Einheit von Identität und Andersheit (Enn. VI 7 [38], 13-14) – einerseits als Hinwendung zum Einen, andererseits als Offenheit für die Hervorbringung einer anderen Form des Seins, das heißt für die Seele und für die sichtbare Welt. Diese zweiseitige Selbstranszendierung wird vom Geist allen Formen des Bewusstseins und Seins vermittelt; folglich nimmt jede Seins- und Bewusstseinsform an der Tätigkeit des Geistes, an der noêsis, teil bzw. ist in irgendeiner Modalität noêsis (III 8 [30],8,12–18), sodass auch die sinnlichen Wahrnehmungen letztendlich noêseis, d. h. kontemplative Akte, sind (VI 7 [38],7,30– 31). Dies erklärt, warum die im Sichtbaren verkörperte menschliche Seele die Möglichkeit hat, das eigene Bewusstsein wieder zum Geist und dadurch zum Einen hin zu orientieren. Aufgrund ihres Zusammenhangs mit der Freiheit des Einen wirkt Kontemplation als Quelle eines generativen Kreislaufs, in dem alle Formen des Bewusstseins und des Seins durch ihren je eigenen Impuls zur generativen Selbsttranszendierung die unerschöpflich generative Kraft und Gegenwart des Einen offenbaren und somit auf verschiedenen Stufen die Wege der Rückkehr zum Einen nicht nur zeigen, sondern auch selbst bilden (Enn. I 6 [1] passim; V 9 [5],2; I 3 [20],1–3). Rückkehr ist dabei keine Wiederkehr des Gleichen, keine reproduktive, lediglich widerspiegelnde Tätigkeit. So wird das Selbst, das sich, ausgehend von der harmonischen Verbindung der Seele mit dem sichtbaren Sein, zum Geist zurückwendet, den Geist, und mit ihm die Erfahrung des Einen, in einer einmaligen Form erleben, die in die unerschöpfliche Generativität des Geistes sowie in die Freiheit des Einen vollkommen integrierbar ist.
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